Auf dem Weg des Schweigens
(S.14)
Dieses Buch ist eine Einladung, gemeinsam mit mir den Weg des Schweigens
zu beschreiten und in den Raum der Stille zu lauschen; einer Stille, die uns
aufnimmt und reflektiert – wie ein Spiegel unserer selbst.
Es ist ein persönliches Buch, der Bericht einer inneren Forschungsreise in
die Tiefen unseres Menschseins, wie es sich in all seiner Bedingtheit und
unbeschreiblichen Schönheit in uns manifestiert. Es ist ein Versuch, sich dem
Feuer des Lebendigen selbst zu nähern, das uns atmen, wahrnehmen, denken
und kreativ sein lässt, und jenes Licht in uns zu erspüren, durch das wir als
einmalige Wesen in der Welt erscheinen und handeln.
(S.24)
Schweigen ist eine Zeit für Wesentliches. Es ist eine Zeit, in der das Wesentlichste
uns ganz natürlich berührt und aufnimmt. Dieses Aufgenommenwerden
ist so wohltuend, weil es sich anfühlt wie Nach-Hause-Kommen.
Dabei merken wir, wie lange wir in der Ferne und der Fremde umhergeirrt
sind. Plötzlich wird uns bewusst, dass wir in gewisser Hinsicht eingemauert
in unserem eigenen Gefängnis leben, das aus unseren Rollen, unserer Ich-
Welt und unseren Überzeugungen besteht. Dass wir vergessen haben, wie es
sich anfühlt, einfach nur da zu sein. Ohne Pflicht, ohne Funktion, ohne
irgendetwas tun zu müssen, ohne jemand sein zu müssen, ohne etwas anderes
haben zu wollen. Nur da sein mit dem, was ist.
(S. 38)
In diesem Augenblick ist überall Stille; wortlose Ruhe durchzieht den weiten
Raum. Der Atem vertieft sich von selbst, und der Blick folgt den hoch fliegenden
Schwalben. Sehen ist Sehen und Hören ist Hören. Eine kühle Brise
bewegt die Äste des in der Nähe stehenden Apfelbaums. Von nah und fern,
anschwellend und verklingend, die Melodien und Gesänge der Vögel. Mit
dem Wind – atmen; mit meinem ganzen Sein atmen – jetzt.
Die Direktheit des Jetzt ist so wirklich, dass sie kaum beschreibbar ist. Die
Essenz des Lebendigen ist still und spricht gleichzeitig aus allem. Alle Klänge,
alle Formen, das Sichtbare und das Unsichtbare sind ganz und gar lebendig;
sie atmen das Wesen und leuchten im Sein.
Worte können diese kostbarste Essenz nicht berühren, die uns immer
umgibt und immer erfüllt, wo wir auch sind. Wo es keine Worte gibt, ist
Stille. Stille hat Raum, Stille ist Raum. Sie ist der Raum, der alles enthält. Sie
ist unser Zuhause.
Ohne Worte ist das Gehirn still. Was immer die Sinne berührt, berührt
auch das Gehirn – die Kühle des Windes auf der Haut, die Stimmen der Menschen
auf den fernen Feldern, Lachen, Insekten, das Schlagen einer Tür.
Einatmen, ausatmen – der Körper entspannt. Seiend ist das Sein.
Was immer wir sagen könnten, was immer wir lesen oder hören könnten,
was immer wir denken, ist unwichtig hier – wo das Licht dieses Augenblicks
scheint. Niemals gab es ihn vorher, niemals wird er je wieder sein.
Ein solches Zuhause ist alles, was wir brauchen – ein Platz, der immer
sicher ist, an den wir gehören und an dem wir sein können, wer wir sind.
Dieses Zuhause nimmt uns auf und sagt – ja.
(S.41)
Krusten bilden sich über dem Wesen,
die Masken der Persönlichkeit.
Krusten und Schalen,
die Dressur der Welt.
(S.56)
Der gedachte Gegensatz von Denken und Stille ist irreführend. Er führt in
eine Sackgasse, vor allem dann, wenn das Denken versucht, sich selbst zum
Stillstand zu bringen. Es will selber aufhören, damit es, und mit ihm das Ich,
in die Stille kommen. Das ist sicherlich eine blinde Illusion, denn das Denken
findet ja immer im Jetzt statt, im unendlichen Raum des Jetzt und in der
Lebendigkeit des Seins selbst. Das Denken ist schon dort, wo es in seiner
Vorstellung hin will.
Deshalb kann es beim Meditieren nicht darum gehen, wie wir oft irrtümlich
glauben, das Denken anhalten oder loswerden zu wollen, um das Jetzt zu
spüren. Es geht vielmehr darum, das Denken im Jetzt und die Anwesenheit
des Jetzt im Denken zu erfahren. Durch alle Denkinhalte hindurch ist dann
die Lebendigkeit zu spüren und das Jetzt atmet in jedem Wort.
Das Denken steht also nicht im Gegensatz zu Nicht-Denken. Sprache und
Stille sind kein Widerspruch. Alles ist vom Jetzt gehalten und dadurch immer
zu Hause. Im Zwischenraum, in der Unschärfe der Achtsamkeit, wo Denken,
Wahrnehmen und Empfinden zusammen sind, wird der Schein dieses Gegensatzes
und damit von Dualität überhaupt deutlich. Alles schwimmt im Einen.
(S.79)
Vom Wollen zum Lauschen geht der Weg des Schweigens, der Weg in das
Sein. Wenn wir etwas wollen, hat unser Wille meistens eine Richtung und
dadurch sind wir fixiert auf eine Idee – auf etwas nicht Aktuelles. Wollen ist
deshalb eine Bewegung von hier nach dort. Ganz anders das Lauschen. Es
öffnet, weitet und ruft die Aufmerksamkeit ins Jetzt. Lauschen ist deshalb
eine Bewegung von überall her nach hier. Das Ich will fast immer, und deshalb
muss es still werden, um zu lauschen. Nur dann kann es in die Schwingung
kommen, aus der es entspringt.
(S.92)
Lausche mein Freund
deinem Freund.
Im Innern der Berge,
im Innern der Meere
sein hörbares Flüstern.
Inmitten des Flusses,
inmitten des Windes,
er redet zu dir.
Melodien und Stimmen,
die aus der Ferne erklingen,
berühren so nah!
Lausche mein Freund,
ja, lausche jetzt.
Schon bald, voll Staunen,
wirst du entdecken,
dass, inmitten von allem,
dieser Freund – bist du.
(S.114)
Der wesentliche Unterschied zwischen »Sein«, »Spüren« und »Denken« wird
uns nur selten in unserer Erziehung und Schulbildung beigebracht; wahr-
scheinlich, weil wir uns als Eltern und Erzieher selbst nicht über die Relevanz
dieser Unterschiede klar sind. Stattdessen werden in unserer Erziehung die
vom Denken interpretierte Welt und die dazugehörigen Weltanschauungen
in den Vordergrund gestellt und dadurch automatisch jedem individuellen
Gehirn aufs Neue übermittelt und eingeprägt. Durch fast alle Interaktionen
mit unserer Umgebung verfestigt sich von Geburt an diese abstrahierende
Weise des Selbst- und Weltverständnisses im Gehirn und formt unsere persönliche
Konditionierung. Es ist die Basis des Konsens, auf dem unsere Gesellschaft
aufbaut und mit dem sie funktioniert.
Dieser Konsens überbewertet jedoch die vom Denken erzeugte Wirklichkeit
und unterbewertet die Wirklichkeit, die dem Spüren und Empfinden
entspringt, dem Kontakt mit der Unmittelbarkeit des Jetzt. Dies mag die Ursache
vieler Probleme und Missverständnisse sein, mit denen wir im Verlauf
unseres Lebens konfrontiert sind. Es mag der Preis dafür sein, dass wir vom
Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch der Baum des Lebens ist uns immer
nah. Wenn wir von ihm essen, verblasst das Ich und das Sein erblüht.
(S.117)
Abermals,
wie seit je,
und doch –
nur jetzt.
Jenes Schweben im Sein,
das alles enthält,
und dennoch so leer ist,
wie die Unendlichkeit.
Es vibriert,
es lebt,
es einfach ist,
und ist und ist.
Immer da,
immer neu,
immer hier.
Spürst du es?
Hörst du es?
Ja – das bist du.
(S.129)
Eine Feder schwebt
im leichten Flug
hernieder.
Sie landet weich
auf meiner Uhr.
Die Zeit –
steht still.
(S.143)
Dualität bedeutet, du bist »Du« und ich bin »Ich« und jeder von uns lebt in
einer eigenen Welt, in der wir uns als scheinbaren Mittelpunkt unseres Handelns
erleben und bestimmt sind von unserer Egozentrik und der Überzeugung,
unabhängig voneinander zu existieren. Dualität bedeutet, dass ich alles
in der Welt – seien es Sinneswahrnehmungen, Gedanken oder Gefühle – mit
der Überzeugung erlebe, ein subjektiver Beobachter zu sein, der ein Objekt
betrachtet und erkennt. Diese Subjekt-Objekt-Spaltung ist die Basis von Dualität.
Die Spaltung geschieht sogar, wenn wir lediglich über uns nachdenken
oder sprechen. Das »Ich« als Beobachter redet dann über »mich« als den Beobachteten.
Die Auswirkungen und Konsequenzen dieser fragwürdigen Spaltung
sind enorm und dominieren unser Leben vollkommen. Unser Glaube an
Kategorisierungen und Bewertungen – wie »Freund« und »Feind«, »schön«
und »hässlich« – und unsere Überzeugung von einer »objektiven« Welt um
uns herum und einer »subjektiven« in uns basieren auf dem Konzept von
Dualität. Wenn wir uns jedoch den Tag über genau beobachten, werden wir
viele Momente entdecken, in denen unsere Wahrnehmungen und unser
Seins-Empfinden nicht einem dualen Bewusstsein entspringen. Was geschieht
in solchen Momenten, und was unterscheidet sie von den gewohnten
anderen?
Ohne es recht zu bemerken, sind wir plötzlich eingetaucht in die Direktheit
des Seins, ohne Denken und inneren Dialog, in einen Raum, der frei ist
von Beschreibungen und Definitionen. Dies kann uns überall geschehen – im
Supermarkt, an unserem Schreibtisch oder in einem Konzertsaal. Es kann
uns zu jeglicher Stunde geschehen – während wir Auto fahren, am Computer
arbeiten oder im Garten. Diese Augenblicke sind so natürlich für uns, dass
wir sie gar nicht besonders bemerken. Für ein paar Momente sind wir einfach,
ohne zu denken und ohne die Inhalte unseres Denkens zu glauben.
Früher oder später taucht das Ich automatisch wieder auf und mit ihm das
Du und die anderen. Diese Wechsel der Bewusstseinsebenen erscheinen uns
völlig normal und wir fluktuieren zwischen einem Zustand und dem anderen,
ohne diesen Bewegungen spezielle Beachtung zu schenken.
Wenn wir jedoch beginnen, diese Wechsel zwischen dualem und nondualem
Erleben bewusst wahrzunehmen, und wenn uns klar ist, dass Verhaftetsein
an die duale Wirklichkeit die Basis allen psychischen Leids ist, mag
unser Interesse geweckt werden, diese Übergänge viel klarer zu beobachten.
Das führt uns ganz direkt zum Erforschen der Wahrnehmungsprozesse
selbst. Was geschieht, wenn wir schauen, hören oder spüren? Gibt es Wahrnehmung
mit und ohne Beobachter, mit und ohne einen Wahrnehmenden?
Und wie und was könnte eine Wirklichkeit ohne getrennte Subjekte und
Objekte sein?
Wenn Beobachter und Beobachtetes sich vereinen, hören Beschreiben und
Wissen auf. Da es keine gültigen Antworten gibt, hören auch die Fragen auf.
Stille umfängt den Geist und aller Konflikt endet.
(S.146)
Sehen ist Sein.
Sehen ist Schöpfung.
Im Sehen selbst
werden Welten erschaffen.
Das Sehen des Baumes
ist der Baum.
(S.152)
Es gibt nur Eines, eine essenzielle »Substanz«. Alles ist aus ihr gemacht und
entsteht aus ihr. Während uns die meisten lebendigen Formen und Strukturen
verschieden und als sie selbst einzigartig vorkommen – wie ein Baum, ein
Reh oder ich selbst – ist uns nur selten bewusst, dass die jeweilige »Selbstheit«
aus dieser einen, einzigen Substanz besteht. All die Billionen Formen auf der
Erde und all wir Menschen müssen erfüllt sein von ein und derselben Essenz.
Trotz der sichtbaren Unterschiede ist in Wahrheit alles eins. Seit Menschengedenken
haben Menschen diese Ur-Substanz verehrt und ihr viele Namen
gegeben, wie »Lebensenergie«, »Präsenz«, der »ewige Atem«, das »Tao« oder
»Gott«.
Wahrscheinlich kann immer alles, was möglich ist, in unbegreiflicher
Weise manifest werden. Als Potenzialität ruht es schon im unendlichen
Schoß der Schöpfung, in der tiefen Leere allen Raums. Es kann gewaltsam
oder voller Liebe sein, hässlich oder von vollkommenster Schönheit. Es kann
irgendetwas und alles sein. Doch, was es auch sei, es besteht immer aus der
einen »Substanz« und ist deshalb in der Wesensessenz dasselbe.
Sind die Erscheinungen unserer Welt deshalb in ihrer Unterschiedlichkeit
eine Illusion? Das kann nicht sein! Shiva oder Gott haben unendlich
viele Gesichter und alle sind sie wirklich und unwirklich zugleich. Das Manifeste
und das Nicht-Manifeste können nur derselben Quelle entspringen und
tragen sie als höchste Wirklichkeit in sich. Alles, was es gibt, ist reinster
Schöpfungs-Tanz – der heilige Tanz des Lebens. Und in allem, was es gibt,
spiegeln und schauen sich Schöpfer und Schöpfung selbst.
Auch das Universum des Denkens mit seinem »Ich« kann nur aus dieser
»Ur-Substanz« hervorgehen und unaufhörlich von ihr gespeist werden. So
wie ein Baum nichts anderes ist als eine spezifische Erscheinungsform dieser
reinen »Energie«, müssen es auch alle im Denken erscheinenden Formen und
Inhalte sein.
Kann im Denken ein Gewahrsein dieser essenziellen »Substanz« möglich
werden?
Wenn ja, kann es sicherlich nur ein intuitives Ahnen sein, ein Spüren
vom Geschmack des Unbegreiflichen. In einem Moment der Gnade von seinem
Ur-Wesen berührt, verstummt das Denken und lauscht.
(S.168)
Noch vor jedem Laut,
noch vor jedem Licht
auf tanzenden Formen,
die Tiefe des Raums,
die Tiefe der Stille –
erfüllt in sich selbst.
(S.193)
Liebe ist die Geliebte.
Liebe ist eine Blume, die ihre Schönheit empfängt.
Liebe ist der Strom von dir in mir.
Liebe ist ein Kind, das erstmals sieht.
Liebe ist das Licht in jeder Form.
Liebe als Geliebter schmilzt jede Form.
Liebe ist die Hand, die im Sterben dich hält.
Liebe bringt uns den Duft des Lebens.
Liebe ist das Dasein ohne Zeit.
Liebe ist das Ende von jedem Anfang.
Liebe ist die Essenz, das ewige Meer.
/S.196)
Jeder Augenblick ist eine Herausforderung und eine Chance, bewusst eine
sensible Balance zu lernen und zu üben: Auf der einen Seite die Aufmerksamkeit
willentlich dem aktuellen Geschehen zuzuwenden, wahrzunehmen was
geschieht und dadurch fähig zu sein, stimmig zu antworten. Und gleichzeitig
sich ohne Widerstand dem Lebens-Fluss zu überlassen und mit dem Geschehenden
mitzugehen. Dies bedarf einer beständigen, bewussten Übung von
Achtsamkeit, Lauschen, Hingabe und Geduld. Es erfordert die Freiheit,
gleichzeitig jemand, niemand und alles zu sein.
Auf diese Weise gehen wir durchs Leben, oder »werden gegangen«; haben
eine Identität und haben keine Identität, handeln als Ich und sind die Aktivität
von allem in gerade diesem Augenblick. Die anderen erscheinen manchmal
klar getrennt von mir, während wir dann wieder plötzlich vereint sind
im Geschehen des Jetzt. Und – immer und überall – ist Präsenz. Ich bin
Präsenz, du bist Präsenz, alles ist Präsenz.
Präsenz ist die unsichtbare, unbegreifliche, unbeschreibliche Quelle, Essenz
und Wirklichkeit von allem. Es ist jenseits von Form und Nicht-Form. Es ist
jenseits jeder Kategorie und Beschreibung. Präsenz tanzt den Tanz aller Erscheinungen.
Präsenz löscht alle Erscheinungen aus.
Jetzt leuchtet die Schönheit unseres Wesens und Seins, und wir sind ein Licht
im Licht. Was immer geschieht, wo immer der Wind bläst und die Gezeiten
sich bewegen – wir sind zu Hause.